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Gerechtigkeit

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Vortrag

Dieser Text wurde ursprünglich als Vortrag konzipiert. Er ist aber ausgeufert und müsste als Ganzer in mehreren Sitzungen vorgetragen oder für eine stark gekürzt werden.

 

Der philosophische Begriff der Gerechtigkeit
und die soziale Wirklichkeit

Inhalt

A. Gerechtigkeit in der Antike

Die Bedeutung der Moral im Allgemeinen

Der Begriff der Gerechtigkeit bei Aristoteles

Exkurs zur Methode bei Aristoteles

Politik bei Aristoteles

Gleichheit und Ungleichheit in der politischen Theorie von Aristoteles:
   die Aporie der Demokratie


Die soziale Wirklichkeit und die Sklaverei

Exkurs zur Vernunftbegabung der Sklaven

Heutige Bewertung der antiken Sklaverei

Antike und Moderne

Arbeit in der Antike und im bürgerlichen Zeitalter

B. Gerechtigkeit in der Moderne

Zur Begründung der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staates

Zum Begriff der Gerechtigkeit bei Kant

Exkurs zur Begründung des Sittengesetzes

Kants Rechtfertigung des Privatbesitzes an Boden

Eine Anmerkung zur praktischen Philosophie Kants

Die Aporien des Arbeitsvertrages

Der Begriff der Gerechtigkeit bei Kant und
die soziale Wirklichkeit des Kapitalismus


Zur sozialen Wirklichkeit der Lohnarbeit

C. Gerechtigkeit im Sozialismus als Alternative

Kritik der Reduktion der Gerechtigkeit auf distributive

Geschichtsphilosophische Voraussetzungen

Arbeitsgratifikation und Bedürfnis im Sozialismus

Überlegungen zur Moral und Politik im Sozialismus


Fazit

Anmerkungen

Literatur

 

A. Gerechtigkeit in der Antike

„und gegen das Volk werde ich übelgesinnt sein und zu seinem Schaden raten was ich kann“ (Eid der Oligarchen in einigen antiken Poleis, zitiert nach Aristoteles: Pol., S. 194/1310 a)

Die Bedeutung der Moral im Allgemeinen


Gerechtigkeit gibt es nicht ohne Recht, Recht aber ist bisher immer Ausdruck einer herrschaftlich verfassten Gesellschaft, die diese legalisiert, und dadurch immer auch Unrecht gegenüber den Abhängigen in dieser Gesellschaft, seien es Sklaven, verschuldete oder hörige Bauern oder Lohnarbeiter. Das macht die Aporie der Gerechtigkeit aus, die im Folgenden anhand von zwei Modellen, der Polis in der Antike und der bürgerlichen Gesellschaft, dargestellt werden soll, um abschließend daraus Aspekte der Gerechtigkeit in einer sozialistischen Gesellschaft zu entwickeln.
Gerechtigkeit ist ein moralischer Begriff. Deshalb muss erst einmal über das, was Moral ist, reflektiert werden. Moral ist eine späte Entwicklung des menschlichen Verhaltens. Sie ist von der Sitte zu unterscheiden, die das zum Teil unbewusste Regelwerk traditioneller Gesellschaften beinhaltet. Seit der Mensch das Tierreich verlassen hat, also seine Beziehungen nicht mehr auf Instinkten beruhen, sondern auf Kultur, die immer ein Moment von Willkür oder Freiheit enthält, ist die Sitte an die Stelle natürlicher Verhaltensweisen getreten. Entstehen in der traditionellen Gesellschaft Konflikte, dann wird die herkömmliche Sitte immer mehr infrage gestellt. Spätestens dann, wenn sich ökonomische Herrschaft etabliert, die kostenlose Aneignung eines Mehrprodukts durch eine Minderheit, wachsen die Konflikte, sodass sie nicht mehr mit der traditionellen Sitte reguliert werden können. Solche Konflikte in der Antike bzw. Vorantike sind die zwischen Sklaven und Herrn, landlosen oder abhängigen Bauern und Grundeigentümern, zwischen freien Bürgern und Tyrannen, innerhalb der freien Bürger um das Mehrprodukt oder die Landverteilung. Ein besonderer Fall ist der Konflikt zwischen den Rückkehrern aus dem Exil und den daheimgebliebenen Unterschichten in Israel, der zur Entwicklung einer Moral, den Zehn Geboten, geführt hat. (Vgl. Gaßmann: Moral und Herrschaft, Erinnyen Nr. 15, S. 27)
Platon hat die Notwendigkeit der Moral in einem Mythos veranschaulicht. Normalerweise ist ein originärer Mythos die Erklärung des Unbekannten durch Unbekanntes, bei Platon aber ist der Mythos eine Veranschaulichung einer Erkenntnis.
„Da nun aber der Mensch göttlicher Vorzüge teilhaftig geworden, hat er auch zuerst, wegen seiner Verwandtschaft mit Gott, allein unter allen Tieren Götter geglaubt (…), dann bald darauf Töne und Worte mit Kunst zusammengeordnet, dann Wohnungen und Kleider und Beschuhungen und Lagerdecken und Nahrungsmittel aus der Erde erfunden.“
Kommentar:
Der Mensch tritt aus dem Tierreich heraus durch sein begriffliches Denken. Er hat Künste (Techniken) entwickelt, die ihm das Überleben in der Natur erleichtern. Insofern er Vernunft hat, ist er den Göttern ähnlich. Durch das Feuer kann er selbst Teile der Natur beherrschen. Doch diese handwerklichen Techniken oder Künste reichen nicht aus.
„So ausgerüstet wohnten die Menschen anfänglich zerstreut, Städte aber gab es nicht. Daher wurden sie von den wilden Tieren ausgerottet, weil sie in jeder Art schwächer waren als diese, und die verarbeitende Kunst war ihnen zwar zur Ernährung hinreichende Hilfe, aber zum Kriege gegen die Tiere unwirksam.“
Was Platon hier verschweigt oder was er nicht wusste: Um in Städten zu wohnen, musste die Gesellschaft schon so weit entwickelt sein, dass ein Teil von ihr vom Mehrprodukt der anderen leben konnte, Stadtgründung war also in der Antike faktisch nur im Zusammenhang mit Herrschaft möglich.
„Sie versuchten also, sich zu sammeln und sich zu erretten durch Erbauung der Städte; wenn sie sich aber gesammelt hatten, so beleidigten sie einander, weil sie eben die politische oder bürgerliche Kunst nicht hatten, so daß sie wiederum zerstreuend auch bald wieder aufgerieben wurden.“
Historisch kann man diese Erfahrung ansiedeln zu der Zeit vor den Reformen durch Drakon und vor allem Solon. Es waren allerdings nicht wilde Tiere, sondern die Rivalitäten zwischen Adligen, die Aufstände in Schuldknechtschaft geratener Bauern, die allgemeine Rechtsunsicherheit, die Niederhaltung von Sklaven und die Vermeidung anderer innerer Konflikte in der Gesellschaft. Auch die Kriege der Poleis untereinander sind hier zu nennen.
„Zeus also, für unser Geschlecht, daß es nicht etwa gar untergehen möchte, besorgt, schickt den Hermes ab, um den Menschen Scham und Recht zu bringen, damit diese der Städte Ordnungen und Bande würden, der Zuneigung Vermittler. Hermes nun fragt den Zeus, auf welche Art er den Menschen das Recht und die Scham geben solle. Soll ich, so wie die Künste verteilt sind, auch diese verteilen? Jene nämlich sind so verteilt: Einer, welcher die Heilkunst innehat, ist genug für viele Unkundige, und so auch die andern Künste. Soll ich nun auch Recht und Scham ebenso unter den Menschen aufstellen, oder soll ich sie unter alle verteilen? Unter alle, sagte Zeus, und alle sollen teil daran haben; denn es könnten keine Staaten (Poleis, B. G.) bestehen, wenn auch hieran nur wenige Anteil hätten, wie an anderen Künsten.“
In dieser Aussage von Hermes versteckt sich die Erkenntnis, dass die ökonomischen Techniken ungleich verteilt sind, und zwar nicht nur wegen der Arbeitsteilung in der Polis, sondern auch mit der Folge, dass der Reichtum ungleich verteilt ist. Zeus verschärft deshalb den Gedanken der Gleichheit an den politischen Tugenden, indem er diejenigen, die sich weigern, diese sich anzueignen, aus der Polis ausschließt.
„Und gib auch ein Gesetz von meinetwegen, daß man den, der Scham und Recht sich anzueignen unfähig ist, töte wie einen bösen Schaden des Staates.“
Dies ist das historisch Neue an der attischen Gesellschaft, die Staatsraison fordert die gleiche Teilhabe aller Polisbürger an den politischen Entscheidungen der Stadt. Sie ist entstanden im Zusammenhang mit den Solonschen Reformen, nicht diese selbst, sondern die Konzeption, die dahinter stand, hat sich, nach dem Sturz der Tyrannis, durch Kleistenes und Perikles zur vorherrschenden Ansicht entwickelt. (Vgl. Meyer: Athen, S. 103 f.)
„Wenn sie aber zur Beratung über die politische Tugend gehen, wo alles auf Gerechtigkeit und Besonnenheit ankommt, so dulden sie mit Recht einen jeden, weil es jedem gebührt, an dieser Tugend Anteil zu haben, oder es könnte keine Poleis, die Gemeinschaft der freien Bürger, geben.“ (Platon: Protagoras, S. 63) Moral wird hier als ideelle Existenzbedingung der Polis bestimmt.
Aus dieser Isonomie, dem gleichen Anrecht an den Beratungen der Stadt, entwickelte sich die attische Demokratie.
Was den Zusammenhang von Recht, den geschriebenen Gesetzen, und Scham ausmacht, lässt sich von mir nur vermuten. Die Gesetze können nur wirksam sein, wenn sie auch verinnerlicht werden, also Scham auslösen, wenn sie übertreten werden. Der Sophist Kritias hat die Notwendigkeit, Recht zu verinnerlichen, also als moralische Forderung und nicht nur aus Angst vor Strafe anzusehen, ebenfalls in einem erfundenen Mythos begründet und zugleich auch kritisiert.
„Es gab einmal eine Zeit, da war das Leben der Menschen jeder Ordnung bar, ähnlich dem der Raubtiere, und es herrschte die rohe Gewalt. Damals wurden die Guten nicht belohnt und die Bösen nicht bestraft. Und da scheinen mir die Menschen sich Gesetze als Zuchtmeister gegeben zu haben, auf daß das Recht in gleicher Weise über alle herrsche und den Frevel niederhalte. Wenn jemand ein Verbrechen beging, so wurde er nun gestraft. Als so die Gesetze hinderten, daß man offen Gewalttat verübte, und daher nur insgeheim gefrevelt wurde, da scheint mir zuerst ein schlauer und kluger Kopf die Furcht vor den Göttern für die Menschen erfunden zu haben, damit die Übeltäter sich fürchteten, auch wenn sie insgeheim etwas Böses täten und sagten oder (auch nur) dächten. – Er führte daher den Gottesglauben ein:
Es gibt einen Gott, der ewig lebt, voll Kraft, der mit dem Geiste sieht und hört und übermenschliche Einsicht hat; der hat eine göttliche Natur und achtet auf dies alles. Der hört alles, was unter den Menschen gesprochen wird und alles, was sie tun, kann er sehen.
   (…) die Götter, sagte er, sie wohnen dort, wo es die Menschen am meisten erschrecken mußte, von wo, wie er wußte, die Angst zu den Menschen herniederkommt wie auch der Segen für ihr armseliges Leben: aus der Höhe da droben, wo er die Blitze zucken sah und des Donners grauses Krachen hörte (…)
   Mit Ängsten solcher Art schreckte er die Menschen und wies so passend und wohlbedacht der Gottheit an geziemende Stätte ihren Wohnsitz an und tilgte den ungesetzlichen Sinn durch die Gesetze.“ (Kritias, in Capelle: Vorsokratiker, S. 378 f.)
In diesem Auszug wird der Gottesglaube bereits als Märchen für unmündige Kinder dargestellt. Doch was die Gesellschaft anstelle der Gottesfurcht setzen sollte, war Kritias nicht klar, geht jedenfalls nicht aus diesem Fragment hervor. Ein autonomes Gewissen war für ihn noch nicht denkbar. Platon und Aristoteles mussten deshalb andere Arten der Legitimation der Moral entwickeln. Nicht die Furcht vor den Göttern oder dem einen Gott, modern ausgedrückt, eine heteronome Absicherung von moralischen Begriffen wie Gerechtigkeit, soll die Einhaltung der Moralregeln sichern, sondern die eigene Einsicht, also erste Ansätze von Autonomie.
Das pragmatische Argument haben Platon und Kritias bereits genannt: Entweder es herrscht Gerechtigkeit in der Gesellschaft oder die inneren Streitigkeiten und die Kriminalität machen ein Zusammenleben unmöglich. Gerecht handeln aber genügt unter den Bedingungen einer herrschaftlich verfassten Gesellschaft nicht mehr. Denn:
1. Was ist gerecht? Ist Schuldknechtschaft gerecht? Ist Sklaverei gerecht?
2. Es reicht die Sitte nicht mehr aus in der komplexer gewordenen Gesellschaft. Die Sitte war ja gerade an ihre Grenzen gestoßen.
3. Man muss auch ein Selbstbewusstsein über das haben, was gerecht ist. Zu den moralischen Prinzipien und Tugenden muss noch das Wissen hinzukommen, was Moral ist.

Das moralische Selbstbewusstsein ist unter der Tugend der Besonnenheit von Platon ausgesprochen worden. Jeder hat vielleicht schon einmal von dem delphischen göttlichen Orakel gehört, das gefordert hat: Erkenne dich selbst. Dieser Orakelspruch ist sozusagen die heteronome Absicherung einer autonomen Leistung des damaligen Bewusstseins. Denn wer nur gerecht handelt, ohne die Gründe für die moralische Notwendigkeit der Gerechtigkeit zu kennen, also ohne ein Selbstbewusstsein über sein Handeln zu haben, der handelt nur zufällig gerecht. Der kann unter anderen Umständen auch ungerecht handeln.
Platon macht die Notwendigkeit eines moralischen Selbstbewusstseins an einer Analogie deutlich:
„Muß aber wohl jeder Arzt notwendig wissen, wann er mit Erfolg den Kranken behandelt und wann nicht? Und so jeder Künstler, wann er Nutzen haben wird von dem Werke, welches er verrichtet, und wann nicht?“ (Platon: Gorgias, S. 138).
Wenn jemand aber keine Besonnenheit bzw. kein Selbstbewusstsein hat, dann ist sein Handeln nur zufälligerweise gerecht oder nützlich. „Also, wie es scheint, bisweilen handelt er zwar besonnen, indem er ja nützlich handelt, und ist also besonnen, weiß aber selbst nicht, daß er besonnen ist.“ (Ebda.)
Im Gegensatz zur traditionellen Sitte ist Moral nicht ohne ein Selbstbewusstsein über sie zu haben, d. h. man muss auch die Gründe der Moral kennen, nicht nur ihre Regeln befolgen. Platon hat diesen Gedanken in einem Ethos des Philosophen verdichtet:
Vor Gericht wird Sokrates wegen seiner Forderung an die Jugend, zu reflektieren, gegen das bestehende Gesetz verurteilt, er habe die Jugend verführt. Es droht ihm die Todesstrafe. Darauf antwortet er:
„wenn ihr mir demgemäß sagtet: ‚Für diesmal, Sokrates, wollen wir Anytos (dem Ankläger) nicht folgen, sondern wir lassen dich frei, doch unter einer Bedingung: daß du dich nicht mehr mit dieser Erprobung abgibst und nicht mehr philosophierst. Wenn du aber noch einmal dabei befaßt wirst, so mußt du sterben.‘ Wenn ihr mich also auf eine so abgefaßte Bedingung freilassen wolltet, so würde ich antworten: ich schätze euch, Männer Athens, und liebe euch, gehorchen aber werde ich mehr dem Gotte (gemeint ist das delphische Orakel, BG) als euch, und solange ich atme und Kraft habe, werde ich nicht ablassen  zu philosophieren und euch zu befeuern und euch klarzumachen, wer mir immer gerade von euch begegnet, indem ich, was ich gewohnt bin, spräche: Bester der Männer, du, ein Bürger Athens, der größten und an Weisheit und Stärke berühmtesten Stadt, du schämst dich nicht, dich um Schätze zu sorgen, um sie in möglichst großer Menge zu besitzen, auch um Ruf und Geltung, dagegen um Einsicht und Wahrheit und um deine Seele, daß sie so gut werde wie möglich, darum sorgst und besinnst du dich nicht? Wenn aber einer von euch Einwendungen macht und behauptet, er sorge sich doch darum, so werde ich nicht gleich von ihm ablassen und weitergehen, sondern ihn fragen und erproben und ausforschen, und wenn er mir die Tüchtigkeit nicht zu besitzen scheint, es aber behauptet, so schelte ich ihn, daß er das Wertvollste am wenigsten achte, das Schlechtere aber höher.“ (Platon: Apologie, S. 35 f.)
Da Moral und somit auch Gerechtigkeit nur zu haben ist, wenn man ein Selbstbewusstsein über sie hat, also ihre Gründe reflektiert hat, stellt auch dieser Vortrag eine Ausdifferenzierung des Selbstbewusstseins über Gerechtigkeit dar.
Das Selbstbewusstsein ist aber aporetisch, wie Platon in der Diskussion im „Gorgias“ erkennt. Es geht wie jede andere Erkenntnis auf ein Objekt, dieses Objekt ist aber die Erkenntnis selbst. Als Erkenntnis der Erkenntnis, bei Aristoteles heißt es später noesis noeseos, hat sie die eigene Erkenntnis zum Gegenstand, der aber kein Gegen-Stand wie etwa ein Sachbegriff mehr ist. Das Selbstbewusstsein ist nur Erkenntnis in Bezug auf das, was es nicht selbst ist, nämlich die moralischen Regeln und Tugenden.
(Das ist vielleicht einer der Gründe, warum Platon später aus solchen moralischen Begriffen wie Gerechtigkeit eine Idee gemacht hat, die in einer eigenen ontologischen Sphäre angeordnet sei, also dann doch aus ihr wieder ein unserem Bewusstsein entgegenstehendes Objekt, einen Gegenstand gemacht hat. Heute erscheint die platonische Idee der Gerechtigkeit als Wert. Beide stehen vor dem gleichen Problem: Was haben sie mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu tun?, wenn sie doch in einer (menschenunabhängigen) Sphäre angesiedelt sind – so schon die Kritik von Aristoteles.)
Inhaltlich ist bei Platon Gerechtigkeit die Aufforderung, sich an die Gesetze der Polis als Gemeinschaft der freien Bürger zu halten. In der hegelschen Rechtsphilosophie wird dieses Gerechtigkeitsprinzip dann wieder unter bereits bürgerlichen Verhältnissen als moralische Forderung aufgegriffen.
Bedingung dafür, dass eine solche Gerechtigkeit akzeptabel ist, muss die Vernünftigkeit der Gesetze sein, und sie sind vernünftig, wenn sie von der Gemeinschaft der freien Bürger beschlossen werden, für die sie dann auch gelten. In den Gesetzen drückt sich das allgemeine Interesse der freien Bürger aus, hier haben sie zu tragfähigen Kompromissen gefunden. Jeder freie Mann in der Polis ist dann Gesetzgeber und zugleich Untertan dieser Gesetze. Das ist ein Gedanke, der dann im bürgerlichen Zeitalter von Rousseau und anderen Aufklärern wieder aufgegriffen wird und schließlich auf die Vernunft bezogen Kants Moral- und Rechtsphilosophie bestimmt. (1)
Was aber, wenn die Gesetze von einem Tyrannen vorgeschrieben werden oder das Vaterland selbst ungerecht handelt? (Gorgias, S. 236) Der Fall des Sokrates ist für Letzteres ein Beleg. Sokrates hat bei Platon, als die Dreißig Tyrannen ihm einen unmoralischen Befehl gaben, diesen Befehl nicht befolgt. Sein Leben wurde nur dadurch gerettet, weil die Dreißig Tyrannen von den Demokraten der Stadt Athen gestürzt wurden. Einige Jahre später hat dann die Athener Demokratie Sokrates wider die Gesetze zum Tode verurteilt, nämlich aufgrund von Vorurteilen, trotz Widersprüchen in der Anklage, und um einen Sündenbock für den Niedergang der Stadt zu haben. Das hat Sokrates aber nicht davon abgehalten, dennoch für die Gesetze, die mit der platonischen Idee der Gerechtigkeit übereinstimmten, einzutreten und nicht gesetzwidrig zu fliehen – eine Möglichkeit, die er hatte.
In einem Gespräch mit Kriton, einem seiner Schüler, lehnt Sokrates die Flucht ab:
„Sokrates. Betrachten wir es einmal so: Wenn im Augenblick, da wir uns anschicken, von hier zu entlaufen oder wie man das nennen soll, die Gesetze und der Gemeinsinn der Stadt uns engegenträte und fragte: ‚Sage mir, Sokrates, was hast du im Sinn zu tun? Planst du etwas anderes mit diesem Werk, in das du dich einläßt, als uns, die Gesetze und die ganze Stadt, an deinem Teil zugrunde zu richten? Oder hältst du für möglich, daß eine Stadt weiterbestehe und nicht zusammenstürze, in welcher die gerichtlichen Entscheide keine Wirkung haben, sondern von Privatleuten aufgehoben und vernichtet werden?‘ Was können wir antworten, Kriton, auf solche und andere Fragen? Denn gar vieles könnte einer, zumal ein Sachwalter, zugunsten dieses bedrohten Gesetzes sagen, welches anordnet, daß die einmal gefällten Urteile in Kraft bleiben … Oder sollen wir ihnen antworten: ‚Unrecht tat uns ja die Stadt, und nicht richtig war das Urteil, das sie fällte?‘ “ (Platon: Kriton, S. 65 f.)
Würde man gegen die Gesetze zu verstoßen zum Prinzip machen, dann wäre die Polis, die Gemeinschaft der freien Bürger, gefährdet, sie würde dem Untergang überantwortet. Die Polis ist aber die Lebensgrundlage der Menschen, ohne diese wären sie nicht existent.
Sokrates sagt weiter zu Kriton aus der Perspektive der Gesetze: „‘Sprich! Was wirfst du uns und der Stadt vor, daß du zu unserem Untergange wirkst? Haben nicht zuerst wir dich erschaffen, und hat nicht durch uns dein Vater die Mutter gefreit und dich gezeugt? Sage also, hast du an diesen unter uns, den Gesetzen über die Ehe, etwas zu rügen, das nicht schön sei? (…) Und an den Gesetzen über die Aufzucht und Bildung des Kindes, in der auch du gebildet wurdest? Oder war es nicht schön, daß diese unter uns Gesetzen, die damit beauftragt sind, deinem Vater vorschrieben, dich in musisicher Kunst und in Leibesübungen bilden zu lassen?‘“
Die Gesetze sind eine notwendige Bedingung der Möglichkeit zivilisatorischen Lebens – zerstört man diese Gesetze, dann fällt die Gesellschaft der Antike wieder in den Naturzustand der Steinzeit zurück, d. h. eine prekär gewordene Sitte ohne Moral. Der bewusste Verstoß gegen die Gesetze, den Kriton dem Sokrates vorschlägt, nämlich aus dem Gefängnis zu fliehen und der Todesstrafe zu entgehen, negiert nicht nur das eine Gesetz, das dieses verbietet, sondern die ganze Rechtsordnung. Sokrates lehnt deshalb den Vorschlag von Kriton ab.
Diese steile Form der Gerechtigkeit ist aber problematisch, die Personalisierung der Gesetze, die Sokrates in seinem Gefängnis gegenübertreten, ist vielleicht mit Platons Ideenlehre kompatibel, übersieht aber das realistische Argument, dass die falsche Auslegung der Gesetze wie im Prozess gegen Sokrates diese Gesetze selbst beschädigen. Das geschriebene Recht kollidiert mit der Rechtswirklichkeit – und das ist immer ein Grund, das Recht selbst zu reflektieren, das anscheinend den Bruch des Gesetzes zulässt.
(Das war zum Beispiel in der DDR der Fall, wenn das geschriebene Recht nach politischer Opportunität ausgelegt wurde. Oder wenn in der bürgerlichen Demokratie der Spruch Konjunktur hat: Auf offener See und vor Gericht ist man allein in Gottes Hand. Solche Willkür deutet auf Widersprüche in den Rechtsgrundsätzen und den Gesetzen selbst hin.)
Ist Gerechtigkeit eine moralische Idee in einer eigenen ontologischen Sphäre oder dem Ideenhimmel, einer menschenunabhängigen Geltungssphäre, dann ist das Verhalten des platonischen Sokrates begründet. Man kann aber sofort mit Aristoteles fragen: Was hat die Idee der Gerechtigkeit mit der sozialen Wirklichkeit zu tun? Die Verbindung zwischen den empirischen Individuen und der Idee bezeichnet Platon als Teilhabe (griech. methexis). Eine solche Teilhabe ist entweder bloß behauptet, dann ist die gegenteilige Behauptung, es gäbe keine Teilhabe, ebenso berechtigt. Oder die Teilhabe ist mit Argumenten begründet. Bei Platon findet sich nur eine Andeutung für eine solche Begründung: Er erwähnt an einer Stelle die Figur eines Dritten Menschen. Dieser Dritte Mensch soll zwischen den Ideen und den empirischen Menschen vermitteln. Akzeptiert man diese Denkfigur, entsteht sofort die Frage, wer vermittelt die Teilhabe zwischen der Idee und dem Dritten Menschen – es müsste ein vierter Mensch sein; und wer vermittelt zwischen dem Dritten Menschen und den empirischen Individuen? Letztlich liefe diese Art der Begründung auf einen regressus in infinitum, eine Begründung ins Unendliche, hinaus, die nicht zu leisten ist, irgendwo müsste die Begründung willkürlich abgebrochen werden und es wäre dann doch wieder nur ein Behauptung.
Diese Kritik an der Ideenlehre von Platon trifft auch auf einige Varianten der Wertphilosophie zu, etwa wenn Rickert von einer Sphäre der Geltung unabhängig vom erkennenden Subjekt spricht oder Nicolai Hartmann ein ideales Ansichsein der Werte behauptet.

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