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Bodo Gaßmann

Materialismus und materialistische Ethik

Materialismus kann kein metaphysisches System der Philosophie sein, bei dem aus dem Begriff der Materie eine Weltanschauung (als Begriff selbst eine condradictio in adjecto) abgeleitet werden könnte. Er würde sich nur dem Namen nach vom Idealismus unterscheiden, dessen proton pseudos die Entwicklung der Welt aus der Idee ist, wie etwa bei Hegel (vgl. Hegel: Logik I, S. 68 f.). Doch auch Hegel wusste, dass man aus einem abstrakten Begriff wie der Idee oder des Seins nicht das Konkrete herausglauben konnte. Da in solchen Begriffen wie Idee oder Sein von allen konkreten Bestimmungen abstrahiert wird, so Hegel, sei das Konkrete in dieser Negation ex negativo enthalten. Selbst wenn man dieses Argument akzeptiert, hat man noch keine einzige weitere Bestimmung. Dies sollte die Arbeit der Geschichte des Weltgeistes, also der Wissenschaft, leisten, die durchaus auch auf dem Empirischen beruht. So ist im Idealismus Hegels ein materialistisches Moment enthalten.

Andererseits, versteht man Materialismus als Negation aller Metaphysik, d. h. aller nicht aus der Empirie abgeleiteter Begriffe, gar als Negation des Geistes überhaupt, dann reduziert sich der Materialismus auf stoffliche Dinge. Nur Atome und die Leere existieren für Demokrit (vgl. Vorsokratiker, S. 396 ff.). Dagegen hatte schon Aristoteles vorgebracht, eine Welt aus lauter Atomen könne nicht erklären, wieso eine bestimmte Konstellation von Atomen ein in sich zweckvolles Gebilde wie etwa den Menschen oder die Pflanzen und Tiere konstituieren (eine Verfassung geben) könnte. Es müsse ein unseren Zwecken Analoges angenommen werden, das Aristoteles Artform oder „Seele“ nannte (Metaphysik I, S. 165 / II, S. 9 ff.). Diese Seele mache sowohl den lebendigen Körper, die Empfindungen und beim Menschen auch das Geistige aus. Die anima vegetativa, anima sensitiva und anima rationale aber sind nicht mehr bloß Materielles, das Gegenstand der Physik und Chemie wäre, sondern immer auch etwas Funktionales, Zweckhaftes und deshalb Geistiges. Das aber heißt, ein reiner Materialismus, wie ihn etwa heute einige Hirnforscher (Roth/Singer) favorisieren, ist nicht möglich, er widerspricht sich selbst: Sie können einen solchen Materialismus nur mit ihrer (geistigen) anima rationale bestimmen, die sie doch in ihrem Materialismus leugnen (vgl. Zunke: Kritik der Hirnforschung, u. a. S. 132 f.).

Was aber ist dann vernünftigerweise Materialismus, wenn man an diesem Begriff rational festhalten will in Abgrenzung zu idealistischen Richtungen? Friedrich Engels hat im Gegensatz zu seinen eigenen metaphysischen bzw. ontologischen Bestimmungen dessen, was Materie sein soll (vgl. z. B. MEW 20, S. 355)(1), darauf eine Antwort versucht. Der „materialistische Standpunkt“ heißt: „die wirkliche  Welt – Natur und Geschichte – so aufzufassen, wie sie sich selbst einem jeden gibt, der ohne vorgefaßte idealistische Schrullen an sie herantritt: man entschloß sich, jede idealistische Schrulle unbarmherzig zum Opfer zu bringen, die sich mit den in ihrem eigenen Zusammenhang, und in keinem phantastischen, aufgefaßten Tatsachen nicht in Einklang bringen ließ. Und weiter heißt Materialismus überhaupt nichts.“ (Engels: Feuerbach, S. 292 / MEW 21)

In diesem Zitat stimmt Engels richtigerweise zu, jeden metaphysischen Materialismus, der aus dem Begriff der Materie eine Weltanschauung herausglauben will, abzulehnen. Doch der Aufklärungsimpetus dieses Zitats ist platt. Natur und Geschichte „so aufzufassen, wie sie sich selbst einem jeden gibt, der ohne vorgefaßte idealistischen Schrullen an sie herantritt“ – kann nur die Oberfläche erkennen oder die Sache falsch widerspiegeln (vgl. MEW 23, S. 86). Es gehört zur Erkenntnis der kapitalistischen Ökonomie die Einsicht, dass deren Gesetzmäßigkeit hinter den Erscheinungen verborgen liegt. (2) Diese engelsche Aussage vergisst außerdem die marxsche Erkenntnis, dass die Sinne selbst schon Theoretiker sind (MEW EB I, S. 540) (und sich nur dann emanzipieren können, wenn das Privateigentum an Produktionsmitteln aufgehoben ist). „Das Reale, der wirkliche Lebensprozeß der Menschen, dessen Untersuchung der frühe Marx postuliert, erweist sich im Verlauf seiner immanenten Darstellung nicht als ein Anschaulich-Konkretes, sondern verdankt sich vielmehr der Realität des Abstrakten, das freilich kein Platonisch-Selbstständiges ist.“ (Mensching: Nominalistische und realistische Momente des Marxschen Arbeitsbegriffs, S. 56)

Geht man von diesem weiten Begriff des Materialismus aus, der auch das Geistige nicht verleugnet und dadurch das menschliche Eingreifen in die Wirklichkeit theoretisch denkbar macht, dann kann das Denken nicht nur „Abbilder der wirklichen Dinge“ sein, wie Engels sagt (Engels, a. a. O., S. 293) – selbst bereits eine fragwürdige These (3) -, sondern auch unseren Begriffen, soweit sie Antizipationen ausdrücken, müssen die Dinge angepasst werden können. Materialismus hat dann zwei ontologische Voraussetzungen: Die ontologische Sphäre der Dinge, die unabhängig von unserem Bewusstsein gedacht wird, muss an sich bestimmt sein, denn sonst hätten wir keine wahren Bestimmungen; und diese ontologische Sphäre muss durch uns bestimmbar sein, denn sonst könnten wir nicht in sie eingreifen. Das Eingreifen aber bezieht sich neben technischen Antizipationen auch auf die Ethik oder Moralphilosophie. Seit der Mensch aus dem Tierreich herausgetreten ist, organisiert er sein Zusammenleben durch Kultur (d. h. immer auch aus Freiheit), die sich als Sitte, später als Moral zeigt (vgl. Gaßmann: Entstehung der Moral). Moralphilosophie als Selbstbewusstsein der Moral geht als materialistische von dem Grundgedanken aus, dass eine Gesellschaft entweder durch Gewalt zusammengehalten wird, die dann immer in der Gefahr ist, in einen Krieg aller gegen alle abzugleiten, heute gar die Menschheit durch einen Atomkrieg zu vernichten, oder durch moralische Prinzipien, die ein friedliches Zusammenleben ermöglichen könnten. Eine Ethik ist materialistisch in der weiten Bedeutung, wenn sie nicht nur rationale Moralprinzipien aufstellt, sondern auch systematisch nach den gesellschaftlichen Bedingungen fragt, unter denen diese sich verwirklichen lassen. Da heute die Entwicklung der Produktivkräfte so weit fortgeschritten ist, dass sie Herrschaft als kostenlose Aneignung des Mehrprodukts nicht mehr benötigt, kann das Ziel vernünftigerweise nur eine herrschaftsfreie sozialistische Gesellschaft sein. Wahr sind solche Moralprinzipien dann, wenn die gesellschaftliche Wirklichkeit an sie angepasst ist. Solange dies nicht der Fall ist, sind sie nur Antizipationen, Projektionen oder politische Ziele.

Da der Kapitalismus, wie alle bisherigen Herrschaftssysteme in der Geschichte, Moral immer für sich nutzte, um die Abhängigen zu friedlicher Duldung der Ausbeutung zu veranlassen, lehnen scheinradikale Linke Moral generell als Herrschaftsmittel ab. Sie übersehen dabei aber zweierlei. Erstens widerspricht ein vernünftiges Moralgesetz wie etwa Kants kategorischer Imperativ, niemanden bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst zu behandeln (Kant: Grundlegung, S. 61), der kapitalistischen Produktionsweise, in der alle Menschen nur als Mittel für die Produktion und den Konsum gelten. Das Moralgesetz wird zum immanenten Maßstab der Kritik an dieser Ökonomie. Das wohlverstandene Eigeninteresse der Menschen an der Abschaffung des Kapitalverhältnisses und damit an Herrschaft überhaupt fällt zusammen mit der Anerkennung des Moralgesetzes und hängt von der Schaffung von Bedingungen ab, in denen es verwirklicht werden kann. Zweitens ist die Alternative zur allgemein gültigen Moral der amoralische Nihilismus (und sei es in Form einer Partikularmoral), wie er sich in der Geschichte der kommunistischen Bewegung vor allem in den Brutalitäten des „Stalinismus“ offenbart hat. Eine politische Bewegung, die das moralische Element als konstitutiv für sich ablehnt, wird zum Feind derjenigen, die sie vorgibt zu vertreten.

Die Vermittlung allerdings von rationaler Moral und dem politischen Handeln, das eine herrschaftsfreie Gesellschaft  intendiert, bleibt immer problematisch, da sich jedes Handeln in die heteronomen Verhältnisse verstricken muss. Eine materialistische Ethik kann diesen Konflikt nur vorübergehend pragmatisch lösen nach dem Grundsatz: Die revolutionären Individuen wie die sozialistischen Gruppen „müssen ihre Mittel des Handelns mit Erfahrung und Augenmaß einsetzen nach der Regel, immer die dem Moralgesetz adäquatesten Mittel zu verwenden, soweit dies die antagonistischen Verhältnisse zulassen.“ (Gaßmann: Ethik des Widerstandes. Abriß einer materialistischen Moralphilosophie, S. 157) Es versteht sich von selbst, dass der Widerstand gegen ein massenmörderisches faschistisches Regime andere Mittel erfordert als politisches Handeln in einer einigermaßen funktionierenden bürgerlichen Demokratie. Eine zukünftige sozialistische Gesellschaft muss sich neben der Kontrolle der Ökonomie auch an der Emanzipation der Individuen, die das Moralgesetz zur Bedingung hat, bewähren – oder sie ist keine Alternative zur historisch obsoleten Herrschaft.

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Anmerkungen

  1. Engels gibt in seiner „Dialektik der Natur“ ontologische Bestimmungen, obwohl er selbst zugibt, dass die Naturwissenschaften sich noch entwickeln. Ob unsere Bestimmungen etwas in der ontologischen Sphäre „treffen“, kann erst von einer als wahr erkannten Theorie, die sich auch in der Praxis bewährt, behauptet werden. (Vgl. Gaßmann: Die metaphysischen und ontologischen Grundlagen des menschlichen Denkens, S. 508 f.)

  2. „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge.“ (Marx: Das Kapital, MEW 23, S. 85, Berlin 1966)

  3. Eine Abbildung oder Widerspiegelung der ontologischen Sphäre der Natur im Denken macht sich erstens eines Produktionsidealismus schuldig, indem die kategorial bestimmten Gesetze den ontologisch gedachten Gegenstand bloß verdoppeln. „der Verstand reproduziert in den Begriffen nur seine eigenen vorgängigen Projektionen, die er dem Gegenstand als deren Wesen imputiert hatte“ (Mensching: Nominalistische und realistische Momente, S. 62) Ein solcher Standpunkt der Widerspiegelung fällt zweitens hinter den erreichten Stand der Kritik der Ontologie bei Kant zurück.

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Literatur

Aristoteles: Metaphysik. 2 Bde. Griechisch-Deutsch. In der Übersetzung von Hermann Bonitz. Neu bearbeitet, mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl, Hamburg 1978/1980.

Die Vorsokratiker. Herausgegeben von Wilhelm Capelle, Stuttgart 1968.

Engels, Friedrich: Dialektik der Natur, in: MEW 20, Berlin1973.

Engels, Friedrich: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW 21, Berlin1975.

Gaßmann, Bodo: Ethik des Widerstandes. Abriß einer materialistischen Moralphilosophie, Garbsen 2001.

Gaßmann, Bodo: Die Entstehung der Moral am Beispiel des Dekalogs, in: Erinnyen Nr. 15 (http://www.erinn15.erinnyen.de/ethikgeschichte.htm).

Gaßmann, Bodo: Die metaphysischen und ontologischen Grundlagen des menschlichen Denkens. Resultate der kritischen Philosophie, Garbsen 2012.

Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik I. Theorie Werkausgabe Bd. 5, Ffm. 1969.

Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Theorie Werkausgabe Bd. 12, Ffm. 1970.

Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Ffm. 1974.

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt, Hamburg 1976.

Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, in: MEW 23, Berlin 1966.

Mensching, Günther: Nominalistische und realistische Momente des Marxschen Arbeitsbegriffs, in: Krise und Kritik. Zur Aktualität der Marxschen Theorie, Lüneburg 1983.

Zunke, Christine: Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, Berlin 2008.

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Letzte Aktualisierung:  24.09.2014

                                                                       
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