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Rezensionen

13.05.2014

Über den Roman "Fieber" von
Arno Kaiser

Lisa Schneller

Aus Geschichten werden Erfahrungen

Dieses Motto könnte über dem Roman „Fieber“ von Arno Kaiser stehen. Aber zunächst einige Fakten. Der Untertitel des Romans heißt etwas umständlich „Ein politischer Roman über Hoffnung, Widerstand und Verfolgung in der DDR im Zeitalter der Revolte 1968“ (siehe unten). Der Autor Arno Kaiser war selbst Verfolgungen in der DDR ausgesetzt und ist deshalb ein authentischer Zeuge der DDR vor und nach dem „Prager Frühling“, dem Reformsozialismus, der damals viele Hoffnungen im Ostblock weckte. Dass er erst vierzig Jahre nach den Erlebnissen aus diesen einen Roman macht, hat seinen Grund in der fehlenden Muße, sich mehr als zwei Jahre allein diesem Projekt zu widmen, eine Muße, die er erst als pensionierter Deutschlehrer besaß.

Den Zusammenhang der vielen Ereignisse und Geschichten bilden zehn Tage anfang 1970 in einer Krankenbaracke im Haftarbeitslager Rackwitz bei Leipzig, in der sowohl Kriminelle als auch Politische, diese meist wegen Republikflucht, eingesperrt sind. Der Titel „Fieber“ bezieht sich aber nicht nur auf die zehn Tage während einer Grippeepidemie, sondern auch auf die Aufbruchsstimmung der Jugend in Ostdeutschland und besonders des Ich-Erzählers Karl Heinz Bender. Er kann sich nicht der üblichen Heuchelei in der DDR anpassen, sondern rebelliert bereits als Jugendlicher und dann als Flugblatt schreibender Student gegen den Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei. Da der Leser bereits am Anfang erfährt, dass die ganzen Querelen mit dem ostdeutschen Staat durch die Abschiebung in den Westen enden, besteht die Spannung des Romans weniger im Stofflichen, sondern konzentriert sich auf die Entscheidung des jungen Bender, ob und wie er einen Aufsatz schreiben wird. Sein „Erzieher“ hat ihn aufgefordert, einen Text mit dem Titel „Die DDR mein Vaterland“ zu verfassen. Für diese Anpassungsleistung winken ihm mehrere Monate frühere Entlassung, denn seine Mutter hat ein Gnadengesuch gestellt. Diese Aufforderung zur geistigen Anpassung veranlasst den jungen Strafgefangenen in diesen zehn Tagen über sein bisheriges Leben nachzudenken. Das reflektierende und kommentierende Ich, das aus der Perspektive des Sechzigjährigen, also vierzig Jahre später, das Verhalten seines jungen Ichs beurteilt, gibt dann auch Episoden wieder, die nach der Grippekrankheit passierten. Ja, es kommt sogar zu Dialogen zwischen dem erlebenden und reflektierenden Ich. Hier bewährt sich die Romanform, die solche Dialoge im Gegensatz zu einer Autobiografie zulässt. Das Thema Fiktion oder Authentizität ist selbst thematisch im Roman. Schon in Rackwitz hatte der junge Bender die Idee, diesen Roman zu schreiben; und als Vorbild erkor er den Roman von Semprun „Die große Reise“, der ebenfalls eine solche Erzählperspektive besitzt und den er im Gefängnis gelesen hatte.

Kaiser erzählt aus seiner Kindheit die Geschichte der Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR, wie sie – allerdings untypisch – in seinem Dorf Follersleben stattfand. Es gab dabei einen Selbstmord, aber letztlich war dies für ihn kein Grund, die DDR zu verlassen, denn als Jugendlicher sympathisierte er sogar mit dem technischen Zweck dieser Kollektivierung, wenn auch nicht mit der konkreten Durchführung. Aus späterer Perspektive erkannte er auch ähnliche Entwicklungen zur großflächigen Landwirtschaft im Westen, die als Bauernlegen in die Geschichte eingegangen sind. Kaiser bleibt aber nicht bei der bloßen Darstellung von Ereignissen stehen, sondern versucht sie in größere Zusammenhänge zu stellen. Das meint der Titel dieser Rezension. Ob das dem „Durchschnittsleser“ von Romanen immer gefällt, mag dahingestellt sein. Es ist aber gerade bei diesem Thema, das über vierzig Jahre zurückliegt, besser als es dem Zufall der Vorbildung zu überlassen, ob es überhaupt begriffen wird. So ist auch die Konfrontation des Protagonisten mit der Religion im atheistischen Staat nicht einfach nur Erzählung, sondern kulminiert in einem „Jesaja-Abend“ 1968 bei einem Jugendpfarrer in Leipzig, der dem Protest, der ständig im Westfernsehen thematisch ist, gewidmet war. Das erlebende Ich reflektiert die Aussagen des Pfarrers in Bezug auf die Ereignisse in Prag, während das erzählende Ich die Bibelexegese des Jugendpfarrers kritisiert. Jedenfalls wird Bender, trotz des Mutes von dem Pfarrer zu diesem Thema, nicht wieder zum Gottesglauben, den Bender schon als Jugendlicher verlor, bekehrt. Die Konfrontation von Atheismus und Gottesglauben ermöglichte ihm, selbst seine Entscheidung zu treffen, nämlich die Wahrheit über die eingeübte christliche Tradition, die auch sein Elternhaus vertrat, zu stellen. Allerdings merkt das erzählende Ich an, dass letztlich die Lektüre von Kant, dessen Kritik der Gottesbeweise, die er während seines Philosophiestudiums in Hannover las, ihn endgültig vom Gottesglauben befreite.

Bis zur Mitte seines ersten Studienjahres in Leipzig findet der junge Bender keine zwingenden Gründe, seine Heimat zu verlassen und mit der DDR zu brechen, im Gegenteil, er spricht sogar von der Leichtigkeit des Seins, das er um sein zwanzigstes Lebensjahr genoss. Erst die Ereignisse in Prag veränderten diese Sicht und damit auch den Blick auf das DDR-Regime. Zunächst keimte die Hoffnung auf, dass sich der autoritäre Sozialismus reformieren könnte. Umso schlimmer war dann die Enttäuschung, als die Panzer in Prag einfielen und die Reformbestrebungen niederschlugen. Hatte der junge Bender bis dahin noch Illusionen über diese Art Regime, so erkannte er nun, das Machtstreben einer Clique von Apparatschiks stand über den Wünschen der Bevölkerung. Es war für ihn kein deformierter Sozialismus mehr, sondern ein neuartiges Herrschaftssystem (das er später als monopolbürokratischen Kollektivismus bestimmte). Mit Kommilitonen verteilt er in Leipzig selbst geschriebene Flugblätter aus der Perspektive der Prager Reformer. Da es in der DDR kaum Resonanz auf den Einmarsch gab, beschloss er mit drei anderen zu fliehen. Seine Verhaftung, Schläge beim Verhör und der Schauprozess in Leipzig mit zwei anderen, der vierte hatte es geschafft, in den Westen zu kommen, machten es ihm unmöglich, weiter diesen Staat als sein Vaterland anzuerkennen. Sein Dasein als Arbeiter, dessen Mechanismen er begriff, nachdem er während der U-Haft „Das Kapital“ von Marx las, und schließlich die Zwangsarbeit im Haftarbeitslager Rackwitz führten dazu, dass er drei Sätze formulierte, warum es ihm unmöglich war, diesen Staat innerlich anzuerkennen: 1. Man verlässt seine Heimat nicht leichtfertig. 2. Die Arbeiter haben kein Vaterland, sondern müssen es sich erst noch erobern. Und 3. Der Mensch ist kein Hund, der die Stiefel dessen leckt, der ihn geschlagen hat. Der erste Satz drückt seine Erfahrung aus, der zweite war an Marx, und der dritte Satz an Rosa Luxemburg angelehnt.

Die Folgen dieses Aufsatzes waren für den jungen Bender nicht vorherzusehen. Zwar musste er bis zum letzten Tag seine Strafe absitzen, womit er gerechnet hatte, um keine Gängelung durch eine Bewährungsstrafe erdulden zu müssen, aber was dann kam, ahnte er nicht. Obwohl er sich nach der Haft ins Privatleben zurückzog, in seiner Freizeit nur noch Schach spielte, wurde er nach einem Jahr erneut verhaftet, diesmal von der Staatssicherheit, und durch deren Mühlen mit Drohungen, Nachtverhören und versuchter Demoralisierung seiner Person gedreht. Nach zehnmonatiger U-Haft wurde er wegen staatsfeindlicher Hetze, Terror und Fluchtabsicht zu fünf Jahren verurteilt, ein Strafmaß übrigens, das ihm die Vernehmer der Stasi bereits in den ersten Vernehmungen ankündigten. Seine Erfahrung mit der Stasi drückt sich in Albträumen, Verschwörungsängsten und im Widerstandswillen aus, der ihn abhärtete, aber dadurch auch deformierte.

Das erzählende Ich denkt auch über den Sinn der Strafe mit Gefängnis nach und kommt zu dem Schluss, dass Gefängnisse niemals Menschen läutern können, im Gegenteil, sie machen den Delinquenten böse. Kaiser drückt diese Deformation des Charakters in einer sexuellen Gewaltfantasie des jungen Bender aus, in der er sich als Chef eines Frauengefängnisses imaginiert. Diese Erfahrungen machen es Bender später dann im Westen unmöglich, Schüler zu disziplinieren, sodass er seinen angestrebten Lehrerberuf nicht ausüben kann. Andererseits ist er sensibilisiert gegenüber Heuchelei und geistiger Anpassung, er erkennt, dass im Westen viele Intellektuelle ebenfalls sich nach der vorherrschenden Meinung ausrichten, ohne auf deren Wahrheitsgehalt zu reflektieren. Der Kalte Krieg beherrschte ihre Gedanken, wenn auch meist subtiler als im Osten.

In dem Haftarbeitslager Rackwitz führt er mit dem Arzt Manfred zwei Literaturabende durch, in denen er Hebel vorliest und Tucholsky und Kästner rezitiert, um seine Mitgefangenen zum Nachdenken und Schmunzeln zu animieren. Sie wollen die Menschen dort nicht nur als Nummern, sondern als Individuen ansprechen. Als Kritik am Kollektivismus verstehen sie auch den Roman von Christa Wolf „Nachdenken über Christa T.“, über den sie in der Krankenbaracke diskutieren. Bender kritisiert die Anpassungsleistung dieser Schriftstellerin, während Manfred ihren Mut hervorhebt, das Leiden und einen nonkonformistischen Charakter als Hauptfigur darzustellen. Die Missachtung des Individuums, die vor allem im Repressionsapparat der DDR schmerzlich zu spüren ist, wird dann auch als ein Hauptgrund dafür diagnostiziert, dass dieser autoritäre Sozialismus seine emanzipatorische Seite eingebüßt hat.

Auf ein Thema möchte ich am Schluss noch eingehen, das sind die Erfahrungen des jungen Bender mit Frauen. Eine Beziehung mit einer Frau, die er liebt und von der er wieder geliebt wird, bricht auseinander, unter anderem weil sie seine kritische Haltung zur DDR nicht ertragen kann. Eine andere Freundin trennt sich von ihm, weil er beruflich nach seiner Haft als Schichtarbeiter in einer Sackgasse gelandet ist.

Soll ich den Roman als Ganzen bewerten, dann sind es diese Erfahrungen, die mich beeindruckt haben. Sie geben ein tieferes Bild der DDR zu dieser Zeit wieder als das Geschichtsbücher, die sich auf Haupt- und Staatsaktionen konzentrieren, jemals können. Die Diskussionen in diesem Krankenraum mit dem Arzt Manfred, den Zeugen Jehova Siegfried und vor allem mit dem Manager Arthur lassen sogar die Gründe erkennen, warum das System des monopolbürokratischen Kollektivismus letztlich scheitern musste. Allerdings sind diese Stärken auch die Schwäche des Romans als Roman, während die Episoden flüssig erzählt werden, und surrealistische Element das Literarische bereichern, erinnern diese Diskussionen zeitweise an theoretische Referate in Dialogform. Der Erzähler ist trotz seiner negativen Erfahrungen mit der DDR nicht in einen platten Antikommunismus abgeglitten, sondern hat sich den freien Blick auf die Ereignisse und seine selbst erarbeitete Ansicht von einem demokratischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz bewahrt. Er lässt an einer zentralen Stelle seine Figur Arthur sagen, dass kein Versuch, einen neuen Sozialismus zu wagen, denkbar sein sollte, ohne die objektiven und subjektiven Erfahrungen in und mit der DDR aufzuarbeiten.

Arno Kaiser:
Fieber. Ein politischer Roman über Hoffnung, Widerstand und Verfolgung in der DDR im Zeitalter der Revolte 1968. Nach autobiografischen Motiven, Garbsen 2014.
ISBN 978-3-929245-11-0
(368 S.; A 5; geb.; Hardcover; 24,00 €)

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