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Essay


Bodo Gaßmann

Versuch einer Apologie des Romans
am Beispiel von Arno Kaisers „Fieber“
und anderer Romane

 

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Inhalt

Hegels Kritik an der Kunst überhaupt und am Roman im Besonderen

Kritikder hegelschen Ästhetik

Zur Ästhetik des Hässlichen

Sozialistischer Realismus

Die Erzählperspektive am Beispiel der Kriegsromane

Die Erzählperspektive am Beispiel der Kriegsromane - 2. Teil

Eine Anmerkung zum Verhältnis von Autor und Erzähler

Adornos radikale Kritik am Roman und ihre Widerlegung

Das Gegenkonzept: Die Fundierung des Romans auf Politik

Die Stärke des Romans

Literatur

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Wer heute einen Roman schreibt, setzt sich in gebildeten Kreisen gleich mehreren Verdächtigungen aus. Zunächst ist der Vorwurf, sozusagen eine Herrschaftstechnik zu bedienen, statt Brot und Fußball zur Ruhigstellung der Lohnabhängigen das inhaltlose Spiel - das so inhaltlos gar nicht ist, sondern versteckt Ideologien verbreitet - für das lesende Publikum zu bedienen. Bereits die Form des Romans, die an die Oberfläche der Gesellschaft gebunden sei, wäre ideologisch.

Hegels Kritik an der Kunst überhaupt und am Roman im Besonderen

Auch Hegel hat die Unterhaltungs-Romane zur „dienenden Kunst“ gerechnet (Ästhetik I, S. 18), sie sei Schmuck des alltäglichen Lebens, flüchtiges Spiel, bloße Unterhaltung, die dem Äußeren der gesellschaftlichen Verhältnisse „Gefälligkeit“ gebe und gerade dadurch wahre Erkenntnisse verhindern will. Meist ist es der Einzelne, der sich dann doch durchsetzt oder die Angebetete endlich bekommt – trotz der Hackordnung. Letztere wird erwähnt, aber als gar nicht so schlimm bewertet. Später wird man sagen, es ist das Ideal des Angestellten, des isolierten Einzelkämpfers, was in den Romanen bedient und im Schein erfüllt wird. Solche Täuschung ist kein Schein wesentlicher Hintergründe, sondern lediglich Veralberung des Lesers, die er noch dazu genießt, was seine Vorurteile befestigt. Um diese Unterhaltungsliteratur soll es in diesem Essay jedoch nicht gehen.
Gegen diese dienende Kunst der Trivialromane steht die freie Kunst der großen Romane des bürgerlichen Zeitalters. Frei sind diese, weil sie ihre Struktur und ihren Inhalt nicht aus der Verkäuflichkeit abgeleitet haben, auch wenn sie auf dem Markt verkauft werden, sondern sich allein der künstlerischen Intention, die auch die Form bestimmt, verdanken. Sie sind Zweck an sich selbst. Doch auch diese stehen im Verdacht, an die Durchdringung der bürgerlichen Welt nicht mehr heranzureichen. Wenn Kunst das „sinnliche Scheinen“ der Idee ist (Hegel, Ästhetik I, S. 117), ein Schein, der das Wesen verkörpert, dann ist der Roman zwar keine Täuschung mehr, aber die Idee sei im Medium der Reflexion besser aufgehoben.
„Wenn wir nun der Kunst einerseits diese hohe Stellung geben, so ist andererseits ebensosehr daran zu erinnern, daß die Kunst dennoch weder dem Inhalte noch der Form nach die höchste und absolute Weise sei, dem Geiste seine wahrhaften Interessen zum Bewußtsein zu bringen. Denn eben ihrer Form wegen ist die Kunst auch auf einen bestimmten Inhalt beschränkt. Nur ein gewisser Kreis und Stufe der Wahrheit ist fähig, im Elemente des Kunstwerks dargestellt zu werden; es muß noch in ihrer eigenen Bestimmung liegen, zu dem Sinnlichen herauszugehen und in demselben sich adäquat sein zu können, um echter Inhalt für die Kunst zu sein (…) Die eigentümliche Art der Kunstproduktion und ihrer Werke füllt unser höchstes Bedürfnis nicht mehr aus; wir sind darüber hinaus, Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten zu können; der Eindruck, den sie machen, ist besonnenerer Art, und was durch sie in uns erregt wird, bedarf noch eines höheren Prüfsteins und anderweitiger Bewährung. Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt.“ (Hegel Ästhetik I, S., 21)
Die Kunst, und dazu gehört auch der freie Roman, gewähre nicht mehr die Befriedigung der geistigen Bedürfnisse, ihr Genuss habe mehr pädagogische Funktion, sei Bebilderung von Ideen. Als solche wurde sie sie im offiziellen sozialistischen Realismus sogar zum Programm erhoben (etwa wenn Stalin forderte, dass die Künstler die Wirklichkeit im Sinne seines Verständnisses von Sozialismus widerspiegeln, gar zum Ingenieur der Seele werden sollen).
Jeder, der heute Kunst produziert, muss sich mit dem Verdikt Hegels gegen sie auseinandersetzen und seine Produktionen rechtfertigen, will er nicht naiv, und das heißt auf der Oberfläche verharrend, die ideologisch geprägt ist, seine Werke auf den Markt werfen. Er mag dort sogar Erfolge feiern, das Zeitalter naiver Kunst ist aber spätestens seit Schiller vorbei (vgl. seinen Essay über „Sentimentale Kunst“). Es gibt kaum einen großen Romanautor oder Dichter, der sich nicht auch mit Kunsttheorie auseinandergesetzt hat. Um nur einige Deutsche zu erwähnen: Heine, Fontane, Heinrich und Thomas Mann und exemplarisch Bertolt Brecht.
Der Autor des Romans „Fieber“ hat versucht, dieses Problem von Darstellung und Reflexion dadurch zu lösen, indem er dem erlebenden Ich, das in die Ereignisse verstrickt ist und nur erste beschränkte Reflexionskraft entwickelt, das erzählende und kommentierende Ich gegenüber stellt, das aus der zeitlichen Ferne von 40 Jahren das Geschehen reflektiert und in die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR einordnet. Was das erlebende Ich mehr fühlt als präzise begreift, dem hilft  das kommentierende Ich auf die Sprünge, das, von der Marxschen Theorie ausgehend, eine begrifflich fundierte Kritik des Sowjetkommunismus im Kopf hat. Das führt allerdings dazu, dass diese Reflexionen nicht immer selbst in die Handlungen eingebunden sind, sondern quasi einen Verstoß gegen die ästhetische Anforderung, alles in die sinnliche Handlung zu integrieren, darstellen.
„Wird der Zweck der Belehrung so sehr als Zweck behandelt, daß die allgemeine Natur des dargestellten Gehaltes als abstrakter Satz, prosaische Reflexion, allgemeine Lehre für sich direkt hervortreten und explizit werden und nicht nur indirekt in der konkreten Kunstgestalt implizite enthalten sein soll, dann ist durch solche Trennung die sinnliche, bildliche Gestalt, die das Kunstwerk erst gerade zum Kunstwerk macht, nur ein müßiges Beiwesen, eine Hülle, die als bloße Hülle, ein Schein, der als bloßer Schein ausdrücklich gesetzt ist. Damit aber ist die Natur des Kunstwerks selbst entstellt. Denn das Kunstwerk soll einen Inhalt nicht in seiner Allgemeinheit als solchen, sondern diese Allgemeinheit schlechthin individualisiert, sinnlich vereinzelt vor die Anschauung stellen.“ (Hegel: Ästhetik I, S. 60)
Gegen Hegel könnte man einwenden, dass sich die Form nach dem Inhalt und der Intention richten muss. Man kann einen DDR-Roman nicht ohne ein Minimum an Reflexion über dieses System schreiben – sonst würde er sich nicht von der Darstellung bloß individueller Besonderheiten in anderen Weltgegenden unterscheiden. Wer sagt denn, diese von Hegel geforderte Versinnlichung sei ein Dogma? Wenn die Grenze der Kunst in der Darstellung der Versinnlichung liegt, dann muss es auch gestattet sein, diese Grenze zu transzendieren (vgl. unten die Betrachtung des Dokumentarischen im Roman). Zumal der Roman mit seinem Medium der Sprache ist dazu in der Lage. Zwei Beispiele mögen diesen Gedanken erläutern. Jemand hat gesagt, der Roman „Fieber“ erinnere ihn an die Romane der Aufklärungsepoche. Und tatsächlich, nimmt man Voltaires „Candide oder der Optimismus“ als Exempel, dann gibt es im Verhältnis von Reflexion und erzählenden Partien Ähnlichkeiten. Jedes Mal, wenn der Protagonist des Romans bei Voltaire scheitert, setzt die Reflexion des Erzählers oder einer der Figuren ein, die gegen alle Erfahrung daran festhalten, dass wir nach Leibniz‘ These in „der besten aller möglichen Welten“ leben. Die Desillusionierung des Optimismus wird zwar als Handlung vorgeführt, ist aber ohne den philosophischen Kommentar gegen die These von der „prästabilierten Harmonie“, in der auch das Unglück noch sein Gutes hat, nicht auf die Diskussionen der Aufklärung ohne weiteres beziehbar.
So sind die Erörterungen im Krankenraum bei dem Roman „Fieber“ vor allem in der Auseinandersetzung des erlebenden Ichs mit dem Manager Arthur und dem Arzt Manfred vergleichbar mit den philosophischen Kommentaren im Aufklärungsroman. Dass andererseits bestimmte Gegenstände des Denkens nicht sinnlich präsentierbar sind, lässt sich an Brecht zeigen. In seinem „Dreigroschenroman“ versucht Brecht das, was Kapitalismus ist, am Beispiel zu versinnlichen. Macheath isst ein Ei und Polly schaut zu, um zu lernen, was diese Ökonomie sei. Dieses Beispiel hat in der Zeit, als Marx in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wieder Teile der Universität beschäftigte, Begeisterung ausgelöst. Ein von der Kritik am Kapitalismus Unbedarfter aber hätte wahrscheinlich über diese Episode hinweggelesen, ohne ihre Intention zu verstehen, weil er die Begriffe nicht gehabt hat, sie zu deuten. Von sich aus ist die Versinnlichung nicht verständlich. In diesen Zusammenhang gehört auch der Versuch Brechts, „Das Kapital“ von Marx in eine künstlerische Form zu bringen – der Versuch ist misslungen; er ist gescheitert, weil sich Bestimmungen wie Wert, Kapital, abstrakte Arbeit nicht adäquat sinnlich darstellen lassen.
Etwas anderes ist es mit Brechts Verfremdungstechnik. Eine junge Leserin des Romans „Fieber“ hat mir berichtet, dass die Passagen, in denen der Roman im Roman thematisiert wird oder das erzählende Ich sich direkt an den Leser wendet, gestört hätten. An eine durchgängige Einfühlung gewöhnt, empfand sie diese Stellen als lästig. Den intellektuellen Genuss, der in solchen Verfremdungselementen liegt und der zum Nachdenken anregen soll, konnte sie noch nicht realisieren. Soweit zum Verhältnis von sinnlicher Darstellung und kommentierender Reflexion.
Hegel hat aber nicht nur die Kunst allgemein als dem Geist nicht mehr angemessen erklärt, sondern auch den bürgerlichen Roman als solchen kritisiert in einer Zeit, als seine großen Gestalten noch gar nicht erschienen waren.
Die Helden der neueren Romane seiner Zeit, das Romanhafte durchaus auf die Romantik beziehend, aus der es kommt, „stehen als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in den Weg legt. Da schrauben sich nun die subjektiven Wünsche und Forderungen in diesem Gegensatze ins unermeßliche in die Höhe; denn jeder findet vor sich eine bezauberte, für ihn ganz ungehörige Welt, die er bekämpfen muß, weil sie sich gegen ihn sperrt und in ihrer spröden Festigkeit seinen Leidenschaften nicht nachgibt, sondern den Willen eines Vaters, einer Tante, bürgerliche Verhältnisse usf. als ein Hindernis vorschiebt. Besonders sind Jünglinge diese neuen Ritter, die sich durch den Weltlauf, der sich statt ihrer Ideale realisiert, durchschlagen müssen und es nun für ein Unglück halten, daß es überhaupt Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Gesetze, Berufsgeschäfte usf. gibt, weil diese substantiellen Lebensbeziehungen sich mit ihren Schranken grausam den Idealen und dem unendlichen Rechte des Herzens entgegensetzen. Nun gilt es, ein Loch in diese Ordnung der Dinge hineinzustoßen, die Welt zu verändern, zu verbessern oder ihr zum Trotz sich wenigstens einen Himmel auf Erden herauszuschneiden: das Mädchen, wie es sein soll, sich zu suchen, es zu finden und es nun den schlimmen Verwandten oder sonstigen Mißverhältnissen abzugewinnen, abzuerobern und abzutrotzen. Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt. Mag einer auch noch soviel sich mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden sein – zuletzt bekömmt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch: die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ohngefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer der übrigen da.“ (Hegel: Ästhetik I, S. 567 f., Hervorhebung von mir.)
Hegel unterstellt in dieser Kritik des Romans, dass die bürgerliche Welt, so viele Missstände sie auch noch hat, dennoch die beste aller möglichen Welten ist, dass sie im Großen und Ganzen vernünftig ist. Das war einerseits fortschrittlich gegenüber restaurativen Resten der feudalen Welt, andererseits ist angesichts der Analyse der Ökonomie der bürgerlichen Welt diese Kritik selbst reaktionär.

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